» ... über Wernströms gesamtes Werk hat Dirk Röpcke fundiert ... mit vielen wichtigen Erkenntnissen geschrieben, insbesondere über das Zusammenspiel zwischen popularisierender Erzähltechnik und politischen Vorträgen und über seine gezielte Verwendung verschiedener narrativer Perspektiven.«
John Swedenmark
Tidskriften KLASS
Schweden




Didaktische Subversion
Dirk Röpcke

Di­dak­ti­sche Sub­ver­sion
Sven Wern­ströms Werk­ent­wick­lung
Anares Verlag, 378 S., Pb., EUR 39,90

ISBN 978-3-935716-76-5





» Die Urgeschichte der Menschheit ist ... vom Morde erfüllt. Noch heute ist das, was unsere Kinder in der Schule als Weltgeschichte lernen, im wesentlichen eine Reihenfolge von Völkermorden.«
Sigmund Freud




Im deutsch­spra­chi­gen Raum wur­de Sven Wern­ström (1925 - 2018), schwe­di­scher Au­tor bil­dungs- und ge­sell­schafts­kri­ti­scher Li­te­ra­tur, die seit den 1960er Jah­ren so­zi­a­lis­tisch am­bi­tio­niert war, vor al­lem durch sei­nen 8-bändi­gen Knech­te-Zyklus be­kannt, mit dem er um 1970 he­rum be­gon­nen und an dem er ein Jahr­zehnt ge­schrie­ben hat­te. Da­rin er­zählt er, ori­en­tiert an be­kann­ten Wer­ken von Vor­bil­dern wie z. B. Au­gust Strind­berg und Vil­helm Mo­berg, All­tags- und So­zi­al­ge­schich­te ab dem 11. Jahr­hun­dert bis zum Be­ginn der 1980er Jah­re aus der Per­spek­tive der Ar­men und Ge­knech­te­ten. Wern­ström un­ter­nahm so­mit den Ver­such, Ge­schich­te, wie Wal­ter Ben­ja­min in sei­nen ge­schichts­phi­lo­so­phi­schen The­sen for­dert, vom "Stand­punkt der Be­sieg­ten" zu schrei­ben. »Indem er für die Ra­di­ka­li­sie­rung der zeit­ge­nös­si­schen For­der­ung nach einer eman­zi­pa­to­ri­schen Kin­der- und Ju­gend­li­te­ra­tur ein­trat, also nach Bü­chern, die der per­sön­lichen und ge­sell­schaft­li­chen Be­frei­ung ih­rer jun­gen Le­ser dien­lich sind, war Sven Wern­ström dem kri­ti­schen Zeit­geist der frü­hen sieb­ziger Jah­re ei­ne Na­sen­länge vo­raus.« (Gina Weinkauff) Die Re­zep­tion sei­ner Li­te­ra­tur ist je­doch stark an die po­li­ti­sche Auf­bruch­stim­mung, an den Kon­text des Ent­ste­hens so­wie an die Re­zep­ti­on der Li­te­ra­tur in den eman­zi­pa­to­ri­schen Be­we­gun­gen ab Mit­te der 1960er Jah­re und die in ih­nen ge­führ­ten Dis­kur­se ge­bun­den, und ge­mes­sen an der An­zahl sei­ner Le­ser wa­ren die er­folg­reich­sten Jahr­zehn­te Wern­ströms die 1960er und 1970er Jah­re. So passte der Knech­te-Zyk­lus dann be­reits nicht mehr so recht in die li­te­ra­ri­sche Kon­junk­tur, denn schon in den 1970er Jah­ren hat­te auf dem Buch­markt ein »Ein­ver­lei­bungs­wett­be­werb um ... die Be­dürf­nis­se in Ju­gend­kul­tu­ren« (Klaus Brieg­leb) ein­ge­setzt, so dass Au­to­ren eman­zi­pa­to­ri­scher Li­te­ra­tur un­ter im­mer stärkeren öko­no­misch­en Druck ge­rie­ten und ab den 1980er Jah­ren schließ­lich vom Buch­markt ver­schwan­den oder zu eta­blier­ten The­men über­gin­gen. Sven Wern­ström ist der ein­zi­ge Ju­gend­buch­au­tor Schwe­dens, des­sen li­te­ra­ri­sches Schaf­fen bis in die Ge­gen­wart so­zia­lis­ti­sche Po­si­ti­o­nen be­zieht. Sei­ne Ent­wick­lung als po­li­tisch en­ga­gier­ter Schrift­stel­ler wird nun erst­mals von sei­nem De­büt im Jahre 1945 bis in die Ge­gen­wart im Kon­text ge­sell­schaft­li­cher und li­te­ra­ri­scher Ent­wick­lun­gen nach­voll­zo­gen, ana­ly­siert und be­ur­teilt.




» Dirk Röpcke ... analyses the work of Wernström and relates it to the development of Swedish realistic juvenile fiction. Röpcke discusses the socialist tendency of Wernström's writing with en emphasis on his works from the 1960s, as well as the 1970 series on thralls and its mediation of an awareness of social classes.«
Katarina Bernhardsson
Nordic Studies
The Netherlands




Inhalt


I. Der Weg zum Schrei­ben
Kind­heit. Ju­gend und Aus­bil­dungs­zeit

II. Hinwendung zur eman­zi­pa­to­ri­schen Li­te­ra­tur

III. Protest, Phantasie und Re­vo­lu­ti­on
Zur Zeit der an­ti­au­to­ri­tä­ren Be­we­gung

IV. Geschichte der Un­ter­drück­ten
Die Knech­te-Er­zäh­lun­gen 1973 - 1981

V. Enttäuschte Hoff­nun­gen
Variationen seit den acht­zi­ger Jah­ren

Werkverzeichnis und um­fas­sen­de
Bibliographie der Se­kun­där­li­te­ra­tur






Textauszug


» Sven Wern­ström nimmt stets die Po­si­ti­on des Auf­klä­rers ein, der "auf der rich­ti­gen Sei­te" steht. Ziel der "di­dak­ti­schen Sub­ver­sion" ist die Mo­bi­li­sie­rung zur Sys­tem­oppo­si­ti­on. Der Le­ser soll die ax­io­ma­ti­sche "Wahr­heit" re­ali­sie­ren. Mit die­ser Wahr­heit soll er das "Rich­tige" und das "Fal­sche", das "Gu­te" und das "Bö­se" er­ken­nen. In per­so­ni­fi­zier­ter Form ist das Gu­te bei Wern­ström der Be­herrsch­te, der Ar­bei­ter und das Bö­se der Herr­scher, der Ka­pi­ta­list. Die­se Sicht­wei­se trägt Zü­ge der von Hork­hei­mer und Ador­no be­schrie­be­nen fal­schen Pro­jek­tion: Die Hy­po­sta­sie­rung der Un­te­ren als die Ver­tre­ter des Gu­ten und die In­eins­set­zung des (ne­ga­ti­ven) Ver­hal­tens der Obe­ren mit dem na­tür­lich Bö­sen führt zur Ab­wehr des als schlecht und bö­se ge­setz­ten An­de­ren. Die sonst von So­zi­alis­ten ver­tre­te­ne ma­te­ri­alis­ti­sche Ein­sicht, dass jed­wede Per­sön­lich­keit ge­sell­schaft­lich ver­mit­telt sei, wird von Wern­ström hier ne­giert. Sein po­eti­sches Ver­fah­ren ist nicht di­alek­tisch, son­dern du­alis­tisch. Das Pro­blem der The­odi­zee, wie das Bö­se in die gott­ge­schaf­fe­ne Welt kam, wan­delt er ab: Wie kam das Bö­se in die von Ar­bei­tern ge­schaf­fe­ne Welt? Und er weiß die Ant­wort: Durch den Ka­pi­ta­lis­ten. Der Sieg ge­gen den Ka­pi­ta­lis­mus wird da­mit zu­gleich zum Sieg des Gu­ten. Er be­zieht sich in einer Art ma­ni­chä­ischen Di­alek­tik von Licht und Fins­ter­nis, Gut und Bö­se zur Be­glau­bi­gung die­ser "Wahr­heit" auf die Weis­heit und das Wis­sen an­de­rer Schrift­stel­ler, Phi­lo­so­phen, His­to­ri­ker etc. Da­rin, im Er­ken­nen der "not­wen­di­gen und ewi­­gen Wahr­heit", ist Wern­ström dann je­doch in sei­nem Ge­schichts­ver­ständ­nis dem Ide­alis­ten Au­gus­ti­nus nä­her als dem Ma­te­ri­alis­ten Marx. Und das mut­maß­lich ohne wirk­liche Ab­sicht, denn Wern­ström er­kennt En­de der acht­zi­ger Jah­re: "Gut und bö­se sind ja feu­da­le Be­grif­fe aus der schwarz­wei­ßen christ­li­chen Vor­stel­lungs­welt. Wenn man mit ih­nen heu­te um­geht, muss man sie auf ir­gend­ei­ne Wei­se in Fra­ge stel­len." (Wern­ström) Dies zu er­ken­nen und zu­gleich im ei­ge­nen Werk das ma­ni­chäi­sche Welt­bild bis heu­te auf­recht­zu­er­hal­ten, ist ein ekla­tan­ter Wi­der­spruch in Wern­ströms Schaf­fen.

Wern­ströms Re­alis­mus­kon­zept ist al­so recht pro­ble­ma­tisch; vor al­lem be­zo­gen auf sei­ne Wir­kungs­in­ten­ti­onen, die er an sei­nen Re­alis­mus­be­griff bin­det. Er setzt Re­alis­mus ... mit Wahr­heit gleich. Doch be­zieht Li­te­ra­tur ih­ren Wahr­heits­ge­halt nach Her­bert Mar­cuse ja nicht aus der Gleich­set­zung von Re­alis­mus und Wahr­heit, son­dern eben ge­ra­de aus der Über­win­dung des Mo­no­pols der ge­sell­schaft­li­chen Re­ali­tät. Die Trans­for­ma­ti­on der Re­ali­tät sei "not­wen­dig .., um die qua­li­ta­ti­ve Dif­fe­renz der Kunst, das An­ders­sein ih­rer Wahr­heit sicht­bar, fühl­bar und hör­bar zu ma­chen" (Mar­cu­se). Wern­ströms Gleich­set­zung von Re­alis­mus und Wahr­heit läuft ... Ge­fahr, je­de trans­zen­die­ren­de Qua­li­tät sei­ner Li­te­ra­tur zu ver­nich­ten. Da­mit droht dann aber auch sein Kon­zept ei­ner "di­dak­ti­schen Sub­ver­sion", die Mög­lich­keit ei­ner "Sub­ver­si­on der Er­fah­rung" (Mar­cu­se) durch Kunst, zu schei­tern. Weil sich also sei­ne Li­te­ra­tur letzt­lich Ver­fah­ren der Mo­der­ne ver­sagt, ver­tut Sven Wern­ström mit sei­nem Re­alis­mus­kon­zept ver­mut­lich die Chance, mit sei­nen Tex­ten auf­klä­rer­isch und "sub­ver­siv" zu wir­ken.

Wenn man ... ver­such­en möch­te, Sven Wern­ströms Vor­stel­lun­gen von So­zi­alis­mus und auch sei­ne Zu­ge­hö­rig­keit zu ei­ner be­stimm­ten so­zi­alis­ti­schen The­orie­strö­mung zu ana­ly­sie­ren, stößt man auf ein ent­schei­den­des De­fi­zit. Er stellt näm­lich sei­ne Vor­stel­lun­gen von So­zi­al­is­mus nie ge­nau­er dar. Es fin­den sich le­dig­lich The­orie­frag­men­te, die er im­mer wie­der in sei­ne Tex­te, auch in die er­zäh­len­den, ein­streut. Der Grad der ar­gu­men­ta­ti­ven Durch­drin­gung sei­ner Aus­füh­run­gen er­reicht nie dis­kur­si­ven Cha­rak­ter. Es bleibt bei Be­grif­fen und Pa­ro­len, wie bei der For­de­rung nach ei­ner po­li­ti­schen Herr­schaft des Pro­le­ta­ri­ats und der Über­win­dung der Aus­beu­tung durch die Auf­he­bung des Pri­vat­ei­gen­tums an Pro­duk­ti­ons­mit­teln. Er nennt im­mer wie­der Marx, Lenin oder auch Mao als sei­ne Ge­währs­män­ner, ohne je­doch auf de­ren The­ori­en ge­nau­eren Be­zug zu neh­men. So­zi­alis­mus und Kom­mu­nis­mus scheint er als Sy­no­ny­me zu ver­wen­den. Ei­ne Dif­fe­ren­zie­rung von Kom­mu­nis­mus und So­zi­al­is­mus, der von Marx als Vor­stu­fe und ers­te (nie­de­re) Pha­se auf dem Weg zum Ziel ei­ner klas­sen­lo­sen Ge­sell­schaft de­fi­niert wird, er­folgt nicht. All das wä­re nicht zu kri­ti­sie­ren, en­ga­gier­te sich Sven Wern­ström nicht so em­pha­tisch für die Selbst­bil­dung der Un­ter­drück­ten durch Li­te­ra­tur und die Sa­che des So­zi­alis­mus und Mar­xis­mus. Wern­ström nutzt je­doch den Mar­xis­mus und sei­ne Be­grif­fe nicht als ei­ne so­zi­al­wis­sen­schaft­li­che (Er­kennt­nis)me­tho­de, son­dern als Mit­tel, um ei­ne von ihm po­li­tisch ge­wünsch­te "wah­re, pro­le­ta­ri­sche Welt­an­schau­ung" von ei­ner ihm un­er­wünsch­ten "fal­schen, bür­ger­li­chen Ide­olo­gie" zu un­ter­schei­den. Bei der in­ner­so­zi­alis­tisch ge­führ­ten De­bat­te um die Sys­tem­fra­ge ent­schei­det er sich je­doch für kei­ne Sei­te. Er schwankt da­bei, auch wenn in sei­nen Tex­ten im­mer wie­der viel Sym­pa­thie für den De­mo­kra­ti­schen So­zi­alis­mus an­klingt, zwi­schen der so­zi­al­de­mo­kra­ti­schen Po­si­ti­on der ers­ten Hälf­te des 20. Jahr­hun­derts, den So­zi­al­is­mus durch de­mo­kra­ti­sche Re­for­men an­zu­stre­ben und dem Ziel, durch die Ent­wick­lung des Klas­sen­kampf­es zu ei­ner re­vo­lu­ti­onä­ren Um­ge­stal­tung der Ge­sell­schaft zu ge­lan­gen. Bei­de Po­si­ti­onen, die so­zi­al­de­mo­kra­ti­sche wie die re­vo­lu­ti­onä­re Ori­en­tie­rung, wer­den wie­de­rum in sei­nen Tex­ten nie ge­nau­er aus­ge­stal­tet.«






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© Dirk Röpcke