» Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein.«
Walter Benjamin
Über den Begriff der Geschichte




MultikultiÖkoMärchen
Dirk Röpcke

Mul­ti­kul­ti­Öko­Mär­chen
Literatur, Päda­go­gik, Kul­tur & Po­li­tik im Über­gang
edition art science / VSB, 124 S., Pb., EUR 14,90
2., überarb. u. erw. Aufl.

ISBN 978-3-902157-92-8
ISBN 978-3-934993-22-8






Die auf die Tech­nik be­zo­ge­nen Eman­zi­pa­ti­ons­hoff­nun­gen sind zu­nich­te. Der wis­sen­schaft­lich-tech­ni­sche Fort­schritt bringt uns kei­ne er­hel­len­den Letzt­be­grün­dun­gen, nichts Nor­ma­tives für un­ser Tun au­ßer Sach­zwän­ge durch den sich im­mer nur wie­der selbst ver­wer­ten­den Wert. Fort­schritts­hoff­nung ist nur­mehr Wachs­tums­hoff­nung. Über al­lem schwebt ein Kli­ma der Angst. Der Angst vor dem Ver­lust des Ar­beits­pla­tzes, des Part­ners, der Freun­de, vor der Zer­stö­rung der Um­welt durch Tech­nik, vor den Aus­wir­kun­gen des Kli­ma­wan­dels etc. »Der Be­griff des Fort­schritts ist in der Idee der Ka­tas­tro­phe zu fun­die­ren. Daß es "so wei­ter" geht, ist die Ka­tas­tro­phe. Sie ist nicht das je­weils Be­vor­ste­hen­de son­dern das je­weils Ge­ge­be­ne. ...: die Höl­le ist nichts, was uns be­vor­stün­de - son­dern die­ses Le­ben hier.« (Wal­ter Ben­ja­min: Das Pas­sa­gen-Werk) Die Men­schen flüch­ten vor die­ser per­ma­nen­ten Ka­tas­tro­phe in das Hier und Jetzt ma­so­chis­ti­scher Selbst­de­struk­ti­on, die sie "Selbst­op­ti­mie­rung" nen­nen und un­ter­wer­fen sich da­mit erst recht dem Dik­tat des durch die Tech­no­kra­tie an sie ge­rich­te­ten Er­war­tungs­drucks - vie­le ver­fal­len dem Zy­nis­mus oder in tiefe De­pres­sion. Die Freud'­sche Psy­cho­ana­lyse - »spot­te­te nicht die ab­so­lu­te Vor­herr­schaft der Öko­no­mie je­den Ver­suchs, die Zu­stän­de aus dem See­len­le­ben ih­rer Op­fer zu er­klä­ren« (Ador­no) - be­schrie­be die­se hoff­nungs­lose Hoff­nung als kol­lek­ti­ve Psy­cho­se.

Die gesellschaft­li­chen Bar­ba­ri­sie­rungs­pro­zes­se ha­ben ei­ne er­neu­te Hin­wen­dung der Ju­gend­buch­auto­rIn­nen zu ei­ner in­ter­na­ti­ona­len, nun als "in­ter-", "trans-" und / oder "mul­ti­kul­tu­rell" fir­mie­ren­den Per­spek­ti­ve zur Fol­ge. Dies je­doch nicht mit po­li­ti­scher At­ti­tüde wie in den 1970er Jah­ren. Die Auf­bruchs­stim­mung, der in die­ser Zeit jen­seits al­ler ideo­lo­gi­schen Dif­fe­ren­zen und Dog­ma­ti­ken vor­han­de­ne Glau­be an ei­ne "bes­se­re Zu­kunft" wird in den 1990er Jah­ren und erst recht am Be­ginn des 21. Jahr­hun­derts vom Ge­fühl des Aus­ge­setzt­seins, ja oft der schie­ren Hoff­nungs­lo­sig­keit ab­ge­löst.

Pädagogik - und damit auch die sich ih­rer be­die­nen­de Li­te­ra­tur­pä­da­go­gik - hält je­doch, wie den feh­len­den Letzt­be­grün­dun­gen und ge­sell­schaft­li­chen Bar­ba­ri­sie­rungs­pro­zes­sen zum Trotze, im Kern wei­ter­hin an ih­rem Te­los fest, das - wie der sich im­mer nur wie­der selbst ver­wer­ten­de Wert - in ei­nen tau­to­lo­gi­schen Zir­kel führt: Sie will den Men­schen zum Men­schen erziehen, um ihn sei­ner "Bestim­mung als Mensch" zu­zu­füh­ren, und je­de er­fol­gen­de er­zie­he­ri­sche Maß­nah­me "ent­spricht" dann auch die­ser Be­stim­mung. Ver­trackt wird dies vor al­lem da­durch, dass die sich selbst als "eman­zi­pa­to­risch" ver­ste­hen­de Va­ri­an­te der Pä­da­go­gik auch noch will, dass der Mensch selb­stän­dig ein selb­stän­di­ger Mensch wer­de. Die rück­kop­peln­de Be­stim­mung des Men­schen aus dem Men­schen als To­ta­li­tät be­treibt Pä­da­go­gik als Selbst­zweck, der aus ei­ner Sack­gas­se he­raus­füh­ren soll. Tat­säch­lich kommt man in ei­nen Kreis­ver­kehr. In der kri­ti­schen The­o­rie fin­den wir hin­ge­gen den Men­schen als To­ta­li­tät in sei­ner per­ma­nen­ten Ne­ga­ti­on. Für sie ist je­de Ge­sell­schaft stets im Über­gang. Ein­zig ei­ne ne­ga­ti­ve An­thro­po­lo­gie, ein Den­ken, »dem nicht vor­ge­schrie­ben wird, was her­aus­kom­men soll« (Ador­no), ver­spricht aus dem "pä­da­go­gi­schen Kreis­ver­kehr" ei­nen Aus­gang; Aus­gang auch aus dem the­o­rie­lo­sen Zu­stand un­se­rer tech­no­kra­ti­schen Ge­sell­schaf­ten, der so alt ist, dass kaum noch ein Mensch in der per­ma­nen­t ge­gen­wär­ti­gen Kri­se sich ei­nen an­de­ren mehr vor­stel­len kann und den Hork­hei­mer so cha­rak­te­ri­sier­t: »Jetzt, da es wirk­lich so ge­kom­men ist, da Har­mo­nie und Pro­gres­si­ons­mög­lich­keit der ka­pi­ta­lis­ti­schen Ge­sell­schaft sich als die Il­lu­si­on ent­lar­ven, die die Kri­tik der frei­en Markt­wirt­schaft seit je de­nun­zier­te, da trotz und we­gen des tech­ni­schen Fort­schritts die Kri­se, wie vor­aus­ge­sagt, per­ma­nent ge­wor­den ist und die Nach­fah­ren der frei­en Un­ter­neh­mer ih­re Stel­lung nur durch Ab­schaf­fung der bür­ger­li­chen Frei­heit be­haup­ten kön­nen, jetzt prei­sen die li­te­ra­ri­schen Geg­ner der to­ta­li­tä­ren Ge­sell­schaft den Zu­stand, dem sie ihr Da­sein ver­dankt, und ver­leug­nen die Theorie, die sein Ge­heim­nis aus­sprach, als es noch Zeit war. ... Der My­thos der In­ter­es­sen­har­mo­nie hat die The­o­rie zer­stört; sie hat den li­be­ra­lis­ti­schen Wirt­schafts­pro­zeß als Re­pro­duk­ti­on von Herr­schafts­ver­hält­nis­sen ver­mit­tels frei­er Ver­trä­ge dar­ge­stellt, die durch die Un­gleich­heit des Ei­gen­tums er­zwun­gen wer­den. Die Ver­mitt­lung wird jetzt ab­ge­schafft. Der Fa­schis­mus ist die Wahr­heit der mo­der­nen Ge­sell­schaft, die von der The­o­rie von An­fang an ge­trof­fen war. Er fi­xiert die ex­tre­men Un­ter­schie­de, die das Wert­ge­setz am En­de re­pro­du­zier­te.« (Max Hork­hei­mer: Die Ju­den und Eu­ro­pa, 1939)





Inhalt


Kon­tin­gen­ter Mensch
Vor-Wor­te zu Mensch, Ge­sell­schaft,
Er­zie­hungs- und Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft
im Über­gang

From­mer Wunsch
Ge­sell­schaft­li­cher Struk­tur­wan­del und
Öko­no­mie

Gro­ßer Klad­de­ra­datsch
Über das dic­ke En­de der Ge­schich­te

Pro­du­zier­te Äs­the­tik
Kunst­wer­ke und »ih­re Lo­gik des
Pro­du­ziert­seins«

Pro­du­zier­te Kind­heit
Am­bi­va­len­te bür­ger­li­che Pä­da­go­gik

Funk­ti­o­na­li­sier­te Li­te­ra­tur
»Es ver­än­dert sich die Wirk­lich­keit,
um sie dar­zu­stel­len, muss die
Dar­stel­lungs­art sich än­dern« (Brecht)

Hoff­nungs­vol­le Li­te­ra­tur
Pro­le­ta­ri­sie­run­gen und
Psy­cho­lo­gi­sie­run­gen

Ent-täusch­te Hoff­nun­gen
»Ich ver­än­de­re mich, al­so bin ich!«
Der schwe­di­sche Ar­bei­ter­schrift­stel­ler
Sven Wern­ström

Hoff­nungs­lo­se Pa­ra­dies­be­sit­zer
Eman­zi­pa­to­ri­sche Mär­chen­re­zep­tion
pas­sé

Durch­leuch­te­ter Le­ser
Po­si­ti­ve Le­se­ty­pen in fröh­li­cher Mi­mi­kry
- Kein Schluss­wort






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© Dirk Röpcke